Du möchtest lieber hören, welche Umwege Mina zu ihrem Assistenzjob gegangen ist? Kein Problem, sie hat den Text für dich eingesprochen:

Ich bin Mina, 30 Jahre alt, und studiere an der TH Köln. Als ich 2017 mein Studium begann, händigte mir die TH neben diversen Unterlagen auch einen Brief von einer Kommilitonin aus, den sie an alle aus diesem Jahrgang geschrieben hatte. In dem Brief schrieb sie, dass sie von Geburt an blind sei und deswegen für den Studienalltag Assistenz sucht. Da in diesem Brief auch stand, dass sie vermutlich bald einen Blindenführhund bekommen wird und ich Angst vor Hunden habe, habe ich den Brief allerdings ohne großes Nachdenken zur Seite gelegt.

Als die Vorlesungen begannen, war es nicht schwer, die Kommilitonin ausfindig zu machen, von der der Brief stammte. Sie hatte ein kleines Gerät vor sich auf dem Tisch stehen über das sie mit den Fingern strich und dass mich mit seinem ewigen Geklicke bei der Konzentration störte, wenn wir einen Text lesen sollten. Doch nach ein oder zwei Wochen fiel mir irgendwann überraschend auf, dass ich es gar nicht mehr wahrnahm. In den Pausen oder wenn wir den Vorlesungsraum wechselten, hatte sie einen Blindenstock dabei und wurde von zwei Mädchen flankiert, die sie scheinbar als Assistenz gefunden hatte. Das freute mich und ich überlegte, sie anzusprechen, aber da war diese Berührungsangst, die ich selbst gar nicht verstehen konnte. Ich konnte wohl kaum zu ihr gehen und sagen: “Ich freue mich, dass du Assistenz gefunden hast.” Wie blöd käme das denn? Es wäre wohl auch etwas taktlos, etwas über meine Hobbys Filme und Zeichnen zu erzählen…

Im Nachhinein muss ich sagen, dass es eigentlich ganz einfach hätte sein können. Ich hätte sie fragen können, was sie von den bisherigen Vorlesungen hält oder warum sie sich für diesen Studiengang entschieden hat oder was das für ein komisches kleines Gerät ist, aber ich war wohl einfach grundlos zu feige.

Außerdem war ich zu diesem Zeitpunkt mit einem anderen dummen Vorhaben beschäftigt: Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, zu der Klicke der ‚coolen Kids‘ zu gehören. Ich hatte mich mit einer von ihnen am Einführungstag so gut verstanden und wollte, dass das anhält. Nach einigen Wochen gab ich es aber auf. Ich bin vieles: Ich bin ein Streber, ich bin kreativ, ich bin lustig (jedenfalls, wenn man meine Freunde fragt 😉 )… aber ich bin eben nicht cool. Und als ich mir dann dachte, es muss doch noch mehr kreative, lustige Streber geben, fand ich tatsächlich schneller einen als gedacht. Es war eine der Assistentinnen der blinden Kommilitonin.

Durch sie kam ich dann natürlich auch in Kontakt mit der blinden Kommilitonin und stellte bereits am ersten Tag fest, dass meine Berührungsangst absoluter Blödsinn gewesen war. Tatsächlich war auch sie ein kreativer, lustiger Streber. Außerdem war ihr völlig klar, dass die Leute ein bisschen unsicher ihr gegenüber waren, und sie nahm es ihnen nicht übel, sondern sah es mit Humor. Wahrscheinlich wäre es sogar völlig ok gewesen, wenn ich wirklich mit diesem dämlichen “Ich freue mich, dass du Assistenz gefunden hast.” – Satz zu ihr gegangen wäre, aber hinterher ist man ja bekanntlich immer schlauer.

Sie behandelte ihre beiden Assistenzen nicht einfach nur wie Arbeitskräfte, sondern sie waren ihre Freundinnen. Wir wurden schnell ein Vierergespann. Ich traute mich dann auch, sie zu fragen, was das für ein Gerät sei und warum es meinte, dauernd klicken zu müssen, und erfuhr, dass es eine sogenannte Braillezeile war. Diese übersetzte ihr Text, der auf einem Laptop stand, in Blindenschrift und das Klicken war das Geräusch, wenn die entsprechenden Stifte hochfuhren, um die Buchstaben in Punktschrift zu bilden. “Was es nicht alles gibt!”, staunte ich. Als sich dann auch noch herausstellte, dass wir in derselben Stadt (außerhalb von Köln) wohnten, fuhren wir fast jeden Tag zusammen mit der Bahn. Das gab uns Raum für viele lustige Gespräche. Ich war neugierig, was sie neben der Braillezeile noch für Hilfsmittel hatte und sie erklärte und zeigte sie mir im Laufe der Zeit alle. Sie hatte ein Farberkennungsgerät, dass der festen Überzeugung war, dass meine blaue Jeans braun sei und einen Barcodescanner, der – wie sie mir erzählte – einmal steif und fest behauptet hatte, eine Packung Klopapier sei eine Dose Erbsen. Natürlich funktionieren ihre Hilfsmittel bis auf wenige Ausnahmen immer gut – die sind nur lustiger zu erzählen. Sie hatte einen Punktschriftdrucker und eine Punktschriftschreibmaschine, eine Sprachausgabe am Laptop, eine Scansoftware, die ihr eingescannte Buchseiten so ausgab, dass sie sie wieder mit der Braillezeile lesen konnte und mehr. Durch ihre Offenheit hatte sie kein Problem damit, mich oder andere diese Hilfsmittel auch einmal ausprobieren zu lassen und so blieb ich nicht die Einzige, die einmal mit geschlossenen Augen den Blindenstock vor mir auf dem Boden herschwingend über den Pausenhof marschierte, um herauszufinden, ob ich damit die Begrenzungspoller ertasten können würde. Als ich später einmal bei ihr zuhause war, durfte ich auch auf der Punktschriftschreibmaschine herumdrücken und sie las mir vor, was ich geschrieben hatte: Es waren größtenteils x und q.

So war ich also lange Zeit keine Assistenz, aber eine Freundin. Im zweiten Semester aber trat eine ihrer zu diesem Zeitpunkt drei Assistenten auf sie zu und sagte, sie müsse leider aufhören. Da sie so ein Mensch war, der es jedem gerne Recht machen wollte, brach sie während ihrer Kündigung in Tränen aus. Während ich noch erschrocken danebenstand und überlegte, ob ich Taschentücher dabeihatte, machte meine blinde Kommilitonin schnell die zwei Schritte auf sie zu, schloss sie in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Die Geste war so rührend, dass ich fast mitgeweint hätte. Stattdessen reichte ich ihr aber nur mit einem Blick, der wie ich hoffte ausdrückte, dass ich sie nicht verurteilte, das Päckchen Taschentücher, dass ich in meiner Jacke fand.
Da nun eine Assistenz fehlte, sprachen die blinde Kommilitonin und ihre verbliebenen zwei Assistenten mich an, ob ich vielleicht einspringen wollte. Es sei praktisch für sie, weil dann sofort jemand Neues gefunden wäre ohne Zeit und Aufwand in ein Bewerbungsverfahren stecken zu müssen, da sie mich schon kannten und ich die Aufgaben vom Hören zumindest schon kannte, und es sei praktisch für mich, weil ich sowieso nach einen Nebenjob Ausschau hielt und mir dann außerdem die Zeit, die wir so oder so zusammen auf dem Nachhauseweg verbrachten, als Arbeitszeit anrechnen lassen könnte. Ich dachte dann auch, das klingt nach einer WIN-WIN-Situation und sagte zu. Allerdings stellte ich klar, dass ich aufhören würde, wenn irgendwann der Blindenführhund da sei, was für alle kein Problem war.

Es war spannend, mich mit den Details der Aufgaben vertraut zu machen, und auch zu sehen, dass es unsere Freundschaft in keiner Weise beeinflusste. Als ich sie einmal in der Bahn halb im Scherz “Chefin” nannte, drehte sie verlegen lächelnd den Kopf zur Seite und sagte, ich solle sie bitte weiter bei ihrem Vornamen nennen. Aber weil mich das verlegene Lächeln so amüsierte, fügte ich noch in gespielter Theatralik etwas hinterher wie: “Aber ich muss dir als meiner Chefin doch meinen Respekt zeigen, Chefin!” Für das Gelächter ernteten wir ein paar böse Blicke der anderen Bahnfahrer.
Ich lernte, wie ich sie am besten vom Hauptbahnhof zur Bus- oder Straßenbahnhaltestelle und dann bis zum Eingang der TH anleitete. So etwas wie “Moment, da kommt ein Auto… JETZT können wir über die Straße” oder die Farbe der Ampelmännchen war mir vorher klar gewesen, aber ob beispielsweise ein Bahnübergang Leitstreifen hatte oder nicht – das sind diese Hubbel an der Wartelinie am Gleis – war mir beispielsweise neu. Ich lernte, wie ich die PowerPoint Präsentationen der Dozenten am verständlichsten in Fließtexte umschrieb, damit sie diese mit ihrer Braillezeile lesen konnte, worauf es beim Beschreiben von Grafiken ankam und dass in den Räumen der TH ein Platz mit Steckdose wichtig war, damit der Laptop nicht mitten in der Vorlesung beschloss, früher Feierabend zu machen. Für Hausarbeiten kam ich auch zu ihr nach Hause und half ihr beim Einscannen der Bücher, die sie als Quellen nutzen wollte – das alles natürlich zusammen mit den anderen Assistenten. Wir teilten die Fächer untereinander auf und zum Scannen kam, wer als Erstes Zeit hatte. Die Begleitung von und zur TH machten wir von gleichen Vorlesungszeiten abhängig.

Zwischendurch kam nach einem längeren Kampf mit der Krankenversicherung dann auch tatsächlich der Blindenführhund dazu. Ursprünglich hatte ich zu diesem Zeitpunkt aufhören wollen, aber der Job hatte mir bis dahin so gut gefallen, dass ich mich breitschlagen ließ, mir das Tier erst einmal anzusehen. Beim ersten Treffen sprang er an mir hoch und ich bekam Panik. Meine Chefin schimpfte mit ihm und riet mir, sollte er das nochmal machen, mich zur Seite zu drehen, damit er merkte, dass ich mich von ihm abwandte, wenn er das tat. Diese Taktik merkte ich mir und war bereit, sie einzusetzen, doch er tat es nie wieder. Er schien bemerkt zu haben, dass ich das nicht mochte. Ich war erstaunt, wie intelligent der Hund war und was er alles konnte. Wie er mühelos zwischen Freizeit und Arbeit hin und her wechseln konnte – nur davon abhängig, ob er das Führgeschirr trug oder nicht – imponierte mir. Ich hätte mir vorher nicht träumen lassen, dass ein Hund verstehen könnte, dass er mit Führgeschirr leicht ziehen sollte und es ohne nicht machen durfte. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass so viele fremde Leute den Hund streicheln wollten! Mir wäre im Traum nicht eingefallen, dass irgendjemand auf dieser Welt auf die Idee kommen könnte, einen fremden Hund streicheln zu wollen. Sie hingegen, die Hunde liebte, war der Meinung gewesen, jeder Einzelne würde den Hund streicheln wollen. Die Realität war eine Mischung aus beidem. Es gab solche und solche Menschen. Ich war davon ausgegangen, dass sie keine Begleitung mehr brauchen würde, sobald sie den Hund hatte, doch ich lag falsch. Also lernte ich, was der Hund konnte und was nicht. Der Hund konnte – nachdem wir ihm mit der Unterstützung von köstlicher Leberwurst für Hunde einen kompletten Nachmittag den Weg von der Bushaltestelle zur TH und zurück beigebracht hatten – sie genau diesen Weg führen, sodass ich nur dahinter zu gehen brauchte. Wenn es um einen unbekannten Weg ging, konnte sie dem Hund sagen, er solle mir folgen, sodass ich nur vorauszugehen brauchte. Der Hund konnte allerdings nicht abschätzen, ob sie vor dem Auto die Straße würden überqueren können oder nicht. Hier musste ich noch sagen, wann wir gehen konnten. Ebenfalls konnte der Hund die Ampel nicht lesen. Und leider lernten wir, dass der Hund manchmal vergaß, dass er eine Arbeit hatte, wenn er einen anderen Hund sah. Er war eben auch nur ein Tier. Ich lernte also, dass ich ihr am besten sagte, dass da noch ein Hund war und in welcher Richtung dieser war, sobald ich ihn sah. Dann war sie vorbereitet, falls ihr Hund stehenblieb oder in seltenen Fällen sogar in die Richtung des anderen Hundes zog. Ich lernte, dass dieser Hund so außergewöhnlich und folgsam war (auf sie hörte er immer und wenn Lust hatte, sogar manchmal auf mich), dass ich mir zutraute, den Job weiterhin zu machen. Damit war er der zweite Hund in meinem gesamten Leben, den ich leiden konnte.

2019 suchte ich mit ihr nach weiteren Assistenten, da in 2020 das Praxissemester unseres Studiengangs anstand, in dem wir ein studentisches Pflichtpraktikum absolvieren mussten. Ich begleitete meine blinde Kommilitonin dabei zu den Bewerbungsgesprächen mit den potenziellen neuen Teammitgliedern. Neben einer kurzen Vorstellung meinerseits – wobei ich überrascht feststellte, dass ich mit drei Jahren inzwischen die langjährigste Assistentin war – führte natürlich sie selbst das Gespräch. Ich führte sie beziehungsweise den Hund zu dem jeweiligen Treffpunkt und achtete während des Gespräches auf die Körpersprache der Bewerber. Sahen sie sie an während des Gespräches? Wirkten sie interessiert an ihr als Person? Unterhielten sie sich nur mit mir anstatt mit ihr? Oder spielten sie währenddessen sogar am Handy herum? Auf der Rückfahrt tauschten wir dann unsere Eindrücke aus. Nachdem die neuen Assistenten ausgewählt waren, half ich bei der Einarbeitung. Ich gab ihnen meine Tipps und Tricks weiter, was der Hund beispielsweise konnte und nicht konnte. Dazu gehörte auch, dass sie dem Hund manche Tätigkeiten nicht abnehmen durften, damit dieser nicht auf die Idee kam, die entsprechende Tätigkeit in Zukunft nicht mehr zu machen, weil es die Menschen schon erledigen würden.

Aber neben dem ganzen neuen Wissen über Menschen mit Behinderung und über meine Aufgaben als Assistenz lernte auch noch etwas anderes: dass es Gold wert ist, mit seiner Chefin befreundet zu sein und wie wohl man sich fühlt, wenn sich die Chefin so menschlich verhält. Jedes Mal, wenn ich bei ihr war – ob privat oder zum Arbeiten – geizte sie nicht mit Verpflegung. Sie veranstaltete Weihnachtsfeiern mit allen Assistenten – je weiter das Studium fortschritt desto mehr wurden es, erst recht, als es an das Praxissemester und an die Bachelorarbeit ging – und hatte für private und berufliche Probleme stets ein offenes Ohr. Zwischendurch hatte ich noch eine Überraschung und ging für ein Jahr in Elternzeit, bevor ich wieder in den Job einstieg, und es war, als hätte sich nichts geändert – außer dass mein Baby nun auch mitgeknuddelt wurde.

sandige Babyfüßchen
Mittlerweile spielt Minas Baby auch schon mit Papa im Sandkasten, während Mama arbeitet. Foto: Pixabay

Inzwischen haben wir 2021 und ich mache den Job nun bereits fünf Jahre. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, als ich damals angefangen habe. Obwohl die ursprünglichen drei Assistenten, die ihr zuerst während des Studiums beistanden, nicht mehr dabei sind, sind wir im Laufe der Jahre mehr geworden. Inzwischen bin ich am längsten mit dabei. Ich nehme viel Wissen bezüglich Diversität und Inklusion daraus mit und habe durch meine blinde Kommilitonin auch andere Menschen mit Behinderung kennengelernt. Ich denke nicht, dass ich nun auf jeden Menschen mit Behinderung komplett ohne Berührungsängste zugehen könnte, aber glaube doch, dass ich etwas mutiger geworden bin als damals in 2017.

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